Zum Amt in der Kirche

Bild: Cenacle on Mount Zion, See The Holy Land, Flickr (Lizenz: CC BY-SA 2.0)

Es ist unbestritten, dass jede ekklesiologische Konzeption immer an christologischen Fragestellungen hängt. Nun eignet schon dem Menschsein Jesu eine Ursakramentalität. In ihr macht sich der ewige Logos selbst in Zeit und Geschichte der Menschen gegenwärtig. Auch der Kirche kommt ein sakramentaler Charakter zu. Sie wird vom II. Vatikanischen Konzil als das sakramentale Mittel und Werkzeug zur Heimholung aller Menschen bezeichnet. (vgl. LG 1) Die Kirche ist das Grundsakrament, das sich dann in die einzelnen sakramentalen Vollzüge ausfaltet, wodurch dem Menschen eine seiner jeweiligen Lebenssituation entsprechende Gnade vermittelt wird. Damit korrespondiert die genuin sakramentale Denkform der katholischen Theologie.[1]

Die evangelische Theologie definiert die Kirche ohne Amt, nach der katholischen Lesart der Heiligen Schrift ist aber das Amt von Anfang an konstitutiv für das Kirche-Sein.

Die Jünger sind schon vor Ostern keine amorphe Gruppe. In ihrer Mitte befindet sich der fest gefügte Kern der Zwölf. Die Zahl, der symbolische Bedeutung zukommt, fügt sie zu einer klar umrissenen Gemeinschaft zusammen. In Mk 3,14 heißt es wörtlich: „und Jesus machte die Zwölf“ (epoiêsen dôdeka). Zwölf ist eine Symbolzahl. Der Symbolismus der Zwölf ist von ausschlaggebender Bedeutung. Es ist die Zahl der Söhne Jakobs und der Stämme Israels.
Durch die Bildung des Zwölferkreises stellt sich Jesus als Stammvater eines neuen Israel vor. Als dessen Ursprung und Fundament sind die zwölf Männer eingesetzt.
Um zu diesem neuen Israel zu gehören, bedarf es nicht mehr der physischen Volkszugehörigkeit. Entscheidend ist die Lebensgemeinschaft mit Jesus. So sind die Zwölf Repräsentanz und Vorwegnahme des neuen Israel und zugleich seine Boten, deren Berufung es ist, die Sendung Christi fortzuführen: „Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch“ (Joh 20,21; vgl. 17,18).
Sie sind ein bestimmter Kreis, „der sich nicht beliebig erweitern läßt, der zwar einerseits die Gesamtheit des Gottesvolkes darstellt, sich aber doch nicht mit der Gesamtheit der Berufenen deckt und dessen Funktionen daher auch nicht mit denen der Gesamtheit der Berufenen zusammenfallen, so dass, was den Zwölfen gesagt wird und was ihnen gilt, keineswegs automatisch für alle Berufenen gilt, zumal die Evangelien durchaus das zu allen und das bloß zu den Zwölfen Gesagte zu unterscheiden wissen“.[2]

Die Gruppe der Siebzig oder Zweiundsiebzig bei Lukas ergänzt diesen Symbolismus: Siebzig war nach jüdischer Überlieferung die Zahl der Weltvölker. So war nach diesem Verständnis die Septuaginta mit ihren 72 Übersetzern das Buch aller Völker. Dass es siebzig Jünger waren, dies bringt den Anspruch Jesu zum Ausdruck, sich mit seiner Sendung auf die ganze Menschheit auszudehnen. Das neue Israel werde alle Völker der Erde umfassen.
Der Kreis der Zwölf besteht nicht aus Personen, die alle gleichberechtigt miteinander kooperieren und synodale Beschlüsse hervorbringen. Er weist in sich eine differenzierte Struktur auf, in der die Funktion des Petrus klar hervortritt. Ihm kommt ein Vorrang unter den Aposteln zu, der sich schon in vielen Textgruppen des Neuen Testamentes abzeichnet.[3] Es geht nicht an der Sache vorbei, auch darin ein kirchenbildendes Element zu sehen, das schon in den vorösterlichen Überlieferungen deutlich hervortritt.[4]

Die Zwölf wurden nach Joachim Gnilka dazu berufen, das Werk Jesu fortzuführen und die Kontinuität zwischen Jesus und der Zeit der Kirche zu gewährleisten.[5] In ihrer apostolischen Tätigkeit führen die Zwölf die Lehrtätigkeit Jesu fort, genauso wie sie die Menschen aus der knechtenden Macht der Dämonen befreien und Heilungen vollbringen. Nach Ostern werden sie ausgesandt, zu verkündigen und zum Taufen. Auch die Einsetzung der Eucharistie im Abendmahlssaal geschieht unter dem Dabeisein der Apostel. Der Wiederholungsbefehl: „Tut dies zu meinem Gedächtnis“, richtet sich an sie. Mit dieser Institutio wird der Kirche etwas Bleibendes mitgeteilt, das ihren Kern ausmacht.

Kaum etwas ist im Neuen Testament so gut bezeugt wie die Einsetzung von Vorstehern durch die Apostel. Diese stehen den Ortskirchen vor. Die von Paulus angesprochenen Bischöfe nehmen vor Ort dieselbe Autorität wahr, die Paulus für die Universalkirche in Anspruch nimmt (vgl. Apg 20,25–28).
Es ist gut belegt, dass Paulus auf seiner ersten Missionsreise, unter anderem in Korinth, in jeder Gemeinde Presbyter eingesetzt hat. An die erste Gemeinde, die er in Europa um das Jahr 50 gegründet hat, jene von Philippi, schreibt Paulus 55 einen Brief, gerichtet „an alle Heiligen in Christus Jesus in Philippi mit ihren Episkopen und Diakonen“ (1,1).[6]

Dieser Befund lässt Leo Scheffczyk sagen: „Die in der Kirche weitergehende Sendung Christi ist ursprünglich und wesentlich an das Apostelamt geknüpft. Der Apostolat ist in der Kirche das ‚Uramt‘, von dem sich alle formellen Ämter in der Kirche ableiten. Es ist bezeichnend für die heute versuchte Konstruktion einer neuen Kirche, dass das in die Fundamente der Kirche eingesenkte Apostelamt in seiner Bedeutung übergangen wird und kaum noch Erwähnung findet.“[7]

In den Pastoralbriefen werden die Apostelschüler Timotheus und Titus Episkopen und Presbyter bzw. Presbyter-Episkopen einsetzten. Hier steht „episkopos“ bereits im Singular. „Diese Entwicklung, noch in apostolischer Zeit abgeschlossen, gehört zur bleibenden Verfassungsstruktur der Kirche.“[8]
Wie in 1 Clem belegt, führt die Verschmelzung beider Ordnungsgestalten gegen Ende des 1. Jahrhunderts zur Amtsgestalt der frühen Kirche.[9] Bereits in den Apostolischen Konstitutionen kommt dem Bischof das Recht zu, Presbyter und Diakone zu erwählen.[10]
So wird schon in den Pastoralbriefen, erst recht aber bei den Apostolischen Vätern, klar, dass die Repräsentation Christi als des Hauptes durch die Apostel und die von ihnen eingesetzten Nachfolger bleibend zu dem gehört, was die Kirche ausmacht. Der Bischof bzw. Presbyter repräsentiert sakramental, dass Christus seiner Kirche „voraus“ ist und ihr als Haupt gegenübersteht. Anders als dem Apostel als Augenzeugen der Auferstehung fehlt dem nachgefolgten Repräsentanten lediglich die für die gesamte Folgezeit bindende Gründungsaufgabe im Hinblick auf die Gesamtkirche.

1. September 2023

Prof. Dr. habil. Michael Stickelbroeck

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[1] Vgl. K.-H. Menke, Sakramentalität. Wesen und Wunde des Katholizismus, Regensburg 22012, 126–146.
[2] Vgl. J. Ratzinger, Das neue Volk Gottes. Entwürfe zur Ekklesiologie, Düsseldorf 1969, 109 f.
[3] So z. B. in 1 Kor 15,3–7; Gal 1,18; Mk 9,2 ff.; 14,33 ff.; in den Jüngerlisten Mt 10,2–4; Mk 3,16–19; Lk 6,14–16; beim Auftragswort Mt 16,17–19.
[4] Vgl. A. Ziegenaus, Katholische Dogmatik VII, 25.
[5] Vgl. J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus I, Zürich 1978, 140.
[6] Zum Vergleich könnte man 1 Thess 5,12 ff. heranziehen, wo von jenen die Rede ist, „die sich unter euch mühen, die eure Vorsteher sind im Herrn“. Bestimmte Personen werden damit klar als Leiter der Gemeinde herausgehoben. Die genaue Zuordnung der Leitungsämter bleibt im NT aufgrund der unklaren Terminologie noch in der Schwebe.
[7] Leo Scheffczyk, Aspekte der Kirche in der Krise, 87.
[8] A. Ziegenaus, Katholische Dogmatik VII, 484.
[9] Vgl. J. Ratzinger, Dogma und Verkündigung, 112. „Presbyteros“ ist zunächst, solange damit der Gemeindevorsteher gemeint ist, mit „Episkopos“ identisch. Schon in der Traditio Apostolica findet sich dann eine klare Dreiteilung der Ämter gemäß einer hierarchischen Ordnung: Der Bischof ist der eigentliche Priester. Mit ihm sprechen die Presbyter, anders als die Diakone, die zum Dienst des Bischofs ordiniert wurden, das Hochgebet.
[10] Vgl. Apost. Konst. II 26, 1–8 (SC 320, 235–241).