Zur Lage des Bußsakramentes

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I. Zur gegenwärtigen Situation
Die Beichtstühle gehören zum verstaubtesten Mobiliar in den Kirchen.
Das Bußsakrament ist ein verlorenes Sakrament geworden. Sein Empfang hat enorm nachgelassen, ja teilweise völlig aufgehört. Beichten droht bei Katholiken zum Auslaufmodell der religiösen, kirchlichen Praxis zu werden. Wem in der Kirche bereitet der Zusammenbruch der Beichtpraxis aber schlaflose Nächte?
Nicht nur für die Schweiz, sondern auch für die anderen Länder Westeuropas und Nordamerikas trifft leider wohl zu, was Papst Benedikt XVI. 2006 den Schweizer Bischöfen gegenüber ausgesprochen hat, nämlich dass „das Sakrament der Versöhnung […] in den letzten etwas 50 Jahren immer mehr verkümmert ist“.[1]
Durch den Ausfall der Beichte kommt es vielerorts auch zu einer Verhärtung der Gemeinden im Hinblick auf die Eucharistie. Es gilt nämlich zu beherzigen, was Paulus in seinem Brief an die Korinther geschrieben hat: „Denn wer davon isst und trinkt, ohne zu bedenken, dass es der Leib des Herrn ist, der zieht sich das Gericht zu, indem er isst und trinkt“ (1 Kor 11,29).
„Wer isst und trinkt, der isst und trinkt sich das Gericht, wenn er den Leib Christi unwürdig empfängt.“ Was will Paulus damit sagen? Wer in schweren Sünden ist, die er nicht gebeichtet hat, dem dient die heilige Kommunion nicht zum geistlichen Fortschritt und zum Heil, sondern er wird ganz stumpf, er stirbt den geistlichen Tod. Wer den Leib des Herrn unwürdig empfängt, der isst den geistlichen Tod in sich hinein.

Man hat in der Überschätzung der dauerhaften und nachhaltigen Bußbereitschaft der Gläubigen nach dem Konzil sehr schnell dazu gegriffen, Bußandachten einzuführen, manchmal in der Absicht, sie in eine persönliche Beichte münden zu lassen, manchmal aber auch in falscher Absicht und Form: Sie stellt dann eine Konzession an laue Katholiken dar. Hier wird man scheinbar kommunionwürdig gemacht zu verbilligtem Preis. Aber auch dort, wo man die Bußandachten zunächst nur wollte, weil sie der Gewissenprüfung und Gewissenbildung dienen sollten, haben sie die Einzelbeichte faktisch vielerorts zurückgedrängt. Die Bußandachten sind verantwortlich für den Selbstbetrug der Christen, die sich der Illusion hingeben, nunmehr frei von Sünden zu sein. Die Menschen, die sich nicht mehr durch persönliche Reue und persönliches Bekenntnis von ihrer Sünde abwenden, verlieren allmählich das lebendige Bewusstsein für Gottes Forderungen. Die Religiosität verflacht, die Herzen werden verblendet und verhärtet. Am Ende steht der offene und geheime Abfall.

II. Welches aber sind die Ursachen, die das Bußsakrament zu einem verlorenen Sakrament werden ließen?
Es stellt sich die Frage, welche Ursachen für das allgemeine Erscheinungsbild der kirchlichen Bußpraxis geltend gemacht werden müssen? Erst wenn man die Ursachen klar ins Auge fasst, wird man am Ende auch die richtigen Schlüsse ziehen können, was zu tun ist.

1. Die erste Ursache ist, dass man nicht mehr weiß, was Sünde ist. Die Sünde wird verharmlost und bagatellisiert. Als Folge besteht bei vielen Zeitgenossen kaum mehr das Gespür für die eigene Vergebungsbedürftigkeit. Es ist klar: Wenn man nicht sündigt, braucht man nicht zu beichten. Seit Jahrzehnten ist ein Heer von Theologen und Katecheten bemüht, die Sünde zu bestreiten. Sünde ist eine Schuld, die aus einer falschen Handlung kommt, das bleibende Ergebnis, das aus der verwerflichen Handlung entsteht.
Gerade das Ignorieren der sogenannten Schweren Sünde führt zu einer falschen Einschätzung der Situation des Menschen vor Gott: Die ausdrückliche, reflexiv-bewusste Absicht, Gott zu beleidigen, ist für eine schwere Sünde nicht erforderlich. Jede mit klarer Erkenntnis frei gewollte Übertretung eines göttlichen Gebotes ist eine Beleidigung Gottes.

Um die eigene Schuld abzuwälzen, greifen nicht wenige zu Strategien der eigenen Entlastung – schuld sind stets die anderen oder anderes: Gegner, Konkurrenten, die Natur, die Erziehung, die ererbte Veranlagung, schicksalhafte Ereignisse, die gesellschaftlichen Verhältnisse, das Milieu. Viele sind wahre Künstler in der eigenen Entlastung, im Abschieben der Schuld.
Unreife Schuldentlastung findet sich in verschiedenen Formen: Wir finden die wohltuende Belastung anderer. Man vergleicht sich mit den übrigen Menschen und findet, dass diese ja auch nicht besser seien. Eigentlich schneidet man selbst ja noch ganz gut ab. Oder man wirft sich zum lautstarken Kritiker anderer auf. Man entwickelt eine Anklage-Mentalität, wird zum Ankläger seiner Mitmenschen. Nicht selten kommt es vor, dass andere mit in die Schuld verstrickt werden, indem man in der Gruppe, vielleicht in der Bande untertaucht. Es ist der Versuch, sich durch „geteilte Schuld“ von der eigenen Verantwortung zu entlasten. Dies gebiert Komplizenschaft.
Beliebt sind auch solche Sprachspiele, die zum wortreichen Zerreden oder Schönreden der Schuld führen. So entdeckt man heute unschwer die Taktik, Mord zu Tötung, Tötung zu Abtreibung, Abtreibung schließlich zur Schwangerschaftsunterbrechung oder zur Fristenlösung herunterzureden.

Ein Grund für das Schwinden des Schuldbewusstseins ist auch eine falsche Psychologie. Viele Psychotherapeuten lassen gar keinen Platz für so etwas wie echte Schuld. Alles wird zu einem falschen Schuldgefühl, das als das eigentliche Problem angesehen wird und aufgelöst gehört. Die moralische Dimension im menschlichen Leben wird dabei geleugnet.

Indem man Schuld auf andere abwälzt, generiert man eine Selbstsicht, die vom Ideal der Fehlerlosigkeit bestimmt ist. Es kostet den Menschen erhebliche Anstrengung, diese in ständigem Selbstbetrug durchzuhalten.
Die Psychoanalytiker haben hier von „Verdrängung“ gesprochen. Der Perfektionist glaubt, er dürfe sich keine Fehler erlauben. Er will sich darum auch nicht bessern, weil es nichts zu verbessern gibt. Er sucht immerzu nur Bestätigung, dass er ohnehin tadellos ist in seinem Verhalten.
Jede Normgebung, die ein anderes Maß angibt, gilt ihm schon als Infragestellung seiner selbst. Sie wird letztlich als existentielle Bedrohung erlebt. Vielleicht ist dies mit ein Grund für die Aggression, die sich gelegentlich gegen die Kirche entlädt. Das bekannte Diktum „Was geht den Papst an, was ich im Schlafzimmer mache?“, ist ein Symptom dieser Einstellung.
Der Psychotherapeut Raphael Bonelli hat dazu konstatiert: „Dadurch, dass der Neurotiker am eigenen Anspruch der Fehlerlosigkeit scheitern muss, bildet sich oftmals eine mangelhaft hinterfragte Aggression, die sich in diffuser Religionsfeindlichkeit und undifferenzierter Kirchenkritik entlädt.“
Die Verdrängung der Schuld und die Gewöhnung an die Sünde wirft einen Schleier des Unbewussten über die eigene Schlechtigkeit. Hier könnte nur eine mutige Gewissenerforschung helfen, in diese Abgründe des Halbbewussten hinabzusteigen, um schwelende innere Konflikte durch das Aussprechen der eigenen Schuld abzubauen. Es wäre im Grund alles so einfach.

2. Papst Johannes Paul II. spricht in seiner Enzyklika Evangelium Vitae von einer „Verfinsterung der Gewissen“.[2] Hier haben wir die zweite Ursache. Es ist das Schwinden des Sündenbewusstseins aufgrund der Verbildung des Gewissens. Viele reden sich heute ein, keine Sünden oder wenigstens keine schweren Sünden zu haben. In der furchtbaren Verbildung ihres Gewissens vermögen sie den wahren Zustand ihrer Seele nicht mehr zu erkennen.
„Tu, was du willst, egal was!“ – dieser Ausruf entspricht dem Freiheitspathos, das uns heute oft begegnet. Wer diesem Freiheitspathos aufsitzt, wird nicht mehr mühsam nach dem suchen, was sittlich gut und richtig ist bzw. sittlich schlecht und falsch ist. Er betrachtet es einfach als Ausdruck seiner Freiheit, auch das Böse zu tun.
Man spricht nicht mehr vom wahren, guten oder aber vom verkehrten, irrigen Gewissen, sondern vom Gewissensentscheid, der einmal so, ein andermal so ausfällt. Das eigene subjektive Gewissen wird verabsolutiert, indem es als letzte Instanz bei der moralischen Bewertung ausgegeben wird. Wer Gewissenfreiheit so versteht, für den ist jede Gewissensentscheidung als gleichrangig und gleichgültig zu respektieren. Die eigene persönliche Entscheidung ist stets der Weisheit letzter Schluss. Das Band zwischen Freiheit und Wahrheit wird ignoriert. Wer in einem völligen Subjektivismus befangen ist, für den hat das Gewissen immer recht. Es irrt nicht und kann nicht irren. Dagegen setzt ein gebildetes Gewissen immer voraus, dass sich ein Mensch am Wahren und Guten orientiert.
Die Gewissensverabsolutierung und Gewissensverwirrung, das heißt die Verwirrung im Hinblick auf Gut und Böse bringt den Menschen aber in die gefährlichste Krise, wovor schon der Prophet Jesaja warnte: „Weh denen, die das Böse gut und das Gute böse nennen, die Finsternis zum Licht und das Licht zur Finsternis machen“ (Jes 5,20).
Wo man dann die sittliche Ordnung total auf den Kopf stellt, wenn man z.B. die Tötung unschuldiger Menschen als gutes Werk an der Menschheit ausgibt, tritt der Supergau des Gewissens ein. Dabei verliert der Mensch die Fähigkeit, Schuld überhaupt noch wahrzunehmen. In der Nazizeit, das wissen wir, war dies in der Erziehung direkt angestrebt. In seinem Interview mit Peter Seewald sagte Kardinal Ratzinger damals: „Man glaubte, nun auch morden zu können, wie Himmler sich ausdrückte, und dabei dennoch anständig zu bleiben – und hat dabei das menschliche Gewissen förmlich zertrampelt.“[3] Man sollte sich nichts mehr dabei denken.
Wie wird man im Deutschland unserer Tage auf die Gewissen der Kinder und junger Menschen einwirken müssen, um ihnen zu erklären, dass wir menschliches Leben vorselektieren, ausselektieren, bevor es überhaupt das Licht der Welt erblickt, weil der Gesetzgeber zwischen lebenswertem und lebensunwertem Leben unterscheidet? Ohne die Umformung und Verbildung seines Gewissens muss doch dies jedem als unerträglich erscheinen.

3. Als dritte Ursache steht das Verblassen der Gottesvorstellung in einem direkten Zusammenhang mit dem Verschwinden der Beichte. Wo das Gewissen verkümmert und abgestumpft ist, wird das Gottesbewusstsein verdunkelt. Mit dem Verlust dieses inneren Orientierungspunktes verliert man auch das Sensorium für Sünde. Papst Johannes Paul II. sah die eigentliche Ursache dieses Schwunds in der „Verneinung Gottes“, und zwar nicht nur in ihrer atheistischen Version. Der überzeugte Atheist sagt: Es gibt keinen Gott! Die Verneinung Gottes kennt heute auch eine andere, säkularisierte Spielart: Man lebt einfach so, wie wenn es Gott nicht gäbe. Man setzt sich ein für einen Humanismus, eine Welt völlig ohne Gott. Verneinung Gottes in diesem Sinn bedeutet, „ihn aus dem eigenen Alltag zu beseitigen“.[4] Jeder Bezug zur Transzendenz, zu einem transzendenten Gott, wird hier abgelehnt.
Das Selbst des Menschen ist zum Gottesersatz geworden. Es gibt darum auch nur noch so etwas wie Eigenschädigung, die Sünde gegen sich selbst.
Ein angemessenes Verständnis von Schuld im Sinne von Sünde müsste aber in der Tiefenschicht der menschlichen Existenz ansetzen: Schuld ist Lebensverfehlung im Angesicht Gottes. In einem Hirtenbrief zur Fastenzeit schrieb der damalige Erzbischof von München Freising, Joseph Ratzinger, bereits 1978: „Wie erklärt sich eigentlich der Unschuldswahn unserer Zeit? Der entscheidende Grund scheint mir dieser zu sein: Der Mensch kann Schuld nicht aushalten, wenn es keine Instanz gibt, die verzeihen kann. Schuld, für die keine Vergebung in Sicht ist, kann man nur leugnen oder verzweifeln. Deshalb hängt die Frage der Schuld unmittelbar mit der Gottesfrage zusammen.“
Nach John Henry Newman konfrontiert das Gewissenserlebnis den Menschen und sein Handeln mit einem Gegenüber, vor dem er sich verantworten muss. Das Ausblenden dieser Dimension führt dazu, dass der Mensch sich selbst als erste und letzte Instanz sieht, die das eigene Verhalten zu beurteilen hat. Er fühlt sich nicht mehr vor einem personalen Gott verantwortlich. Jede Schuld wird dann auf ein Menschenmaß reduziert. „Fehlleistungen“ können möglich sein. Aber die anderen erlauben sich diese ja ebenfalls. Man kennt noch eine Verantwortung gegenüber der Menschheit und der Umwelt. Doch diese Verantwortung wird im Menschen selbst festgemacht. Er und kein anderer, Größerer, bleibt der absolute Bezugspunkt.
Man hat den Größenwahn des heutigen Menschen darum auch als „Gotteskomplex“ (H. E. Richter) bezeichnet. So können wir sagen: „Die Grundgestalt der Sünde liegt in der freien Zersetzung des Gottesgedankens.“[5]

Wer seine eigene Schuld anerkennt, weiß sich im Einklang mit dem Apostel Johannes, der lehrt: „Wenn wir sagen: Wir haben keine Sünde, betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns“ (1 Joh 1,8). Und wenig weiter unten: „Wenn wir sagen, wir hätten nicht gesündigt, so machen wir ihn zum Lügner, und sein Wort ist nicht in uns“ (1 Joh 1,10).
Der berühmte englische Schriftsteller Chesterton sprach einst von „jenen neuen Religionen, die einem die Sünde vergeben, indem sie erklären, dass man überhaupt nicht gesündigt hat“.
Züge einer solchen neuen Religion sind weithin auch in der Kirche zu entdecken. Wenn man aber meint, nicht gesündigt zu haben, dann bedarf man nicht jenes Sakramentes, in dem die Sünden vergeben werden. Der Verlust des Sündenbewusstseins bei zahllosen Gliedern der Kirche erklärt, weswegen das Bußsakrament zu einem verlorenen Sakrament geworden ist.
Dass das Bewusstsein für die Ernsthaftigkeit der Sünde und ihre Folgen verlorengegangen ist, mag sicher auch mit dafür verantwortlich sein, dass sich so viele von der Kirche abwenden, die die Versöhnung mit Gott anbietet. Kardinal Meisner wertet den Schwund des Sündenbewusstseins als eine der größten Krankheiten unserer Zeit:
„Und hier sind wir mehr oder weniger von einer Krankheit befallen, die man den Unschuldswahn des modernen Menschen nennt. Wenn das Herz des Menschen gegen alle Realität beschließt, gegen Sünde immun zu sein, liefert der Verstand jedes Argument, um Sünde in Krankheit, Schwachheit, Menschlichkeit etc. […] umzudeuten. Das aber ist die Sünde wider den Heiligen Geist. Sie macht den Menschen unfähig zu Reue, Buße und Umkehr, sie hält ihn fest in der Verhärtung und der Abwendung von Gott im Stolz. Hier wird Gott überflüssig; Erlösung nicht notwendig und Kirche verzichtbar.“[6]

19. Juli 2022

Prof. Dr. habil. Michael Stickelbroeck

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[1] Vgl. OR (D) 36 (2006), Nr. 46, 8f., hier 9.
[2] Vgl. Papst Johannes Paul II., Enzyklika Evangelium vitae, Nr. 4.
[3] Joseph Ratzinger / Papst Benedikt XVI., Gott und die Welt. Ein Gespräch mit Peter Seewald, München 2005, 362.
[4] Papst Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Reconciliatio et Paenitentia, Nr. 18.
[5] K. Demmer, Das vergessene Sakrament. Umkehr und Buße in der Kirche, Paderborn 2005, 36.
[6] Joachim Kardinal Meisner, Predigt bei der Deutschen Bischofskonferenz im September 1997, in: Vision 2000, Nr. 1 (1998), 16.