Der Souverän der Kirche ist Gott

Foto: Jolanta Dyr, 2012 in Myszyniec (Lizenz: CC BY-SA 3.0)

Mit dem gleichnamigen Buch hat der Rechtsanwalt und katholische Publizist Lothar Rilinger eine Interviewreihe mit Gerhard Ludwig Kardinal Müller, dem ehemaligen Präfekten der Kongregation für die Glaubenslehre, über virulente Fragen des Glaubens, der Kirche, der Philosophie, der Moral und Politik veröffentlicht. Diese Interviews wurden in den letzten Jahren zeitlich versetzt durchgeführt; sie sind vereinzelt im deutschen Sprachraum publiziert worden und nunmehr ‒ etwas überarbeitet ‒ in diesem Band erschienen.

Die Gespräche sind inhaltlich in drei Teile gegliedert: Kirche, Philosophie und Politik. Der Leser kann sich nach einer ersten Durchsicht der großen Breite der behandelten Themen versichern, unter denen die Kirche in ihrem Glauben, ihrer Tradition und Aufgabe, aber auch in ihrer sich zuspitzenden Krise den größten Raum einnimmt.

Die Fragen rund um die Missbrauchsvorwürfe, die seit einigen Jahren die Kirche als Dauerbrenner beschäftigen und die als Vorwand für den deutschen „synodalen Weg“ gedient haben, werden genauso behandelt wie die Probleme, die sich – gerade in Deutschland – aus der Fixierung auf ein Kulturchristentum, das in seiner Plausibilität allen zugänglich sein soll, ergeben. Bei der Fülle der Fragen, die in den Interviews besprochen werden, können nur schlaglichtartig einige Themen herausgegriffen werden:

Kardinal Müller erwähnt die Tendenz, sich in der Kirche dem Mainstream anzupassen, wobei der Glaube und die Offenbarung relativiert werden. Auf diese Weise erhofft man sich in der öffentlichen Meinung größere Zustimmungswerte. Indes wird diese Anpassung an das, was die Gesellschaft gegenwärtig für opportun hält, der Kirche keine Zukunft eröffnen. „Die Folge dieser Liberalisierung ist, dass immer mehr Personen aus der Kirche austreten, da sich durch die Anpassung an den Zeitgeist und dessen Definition des Menschen als ‚Menschen ohne Gott‘ die Einzigartigkeit der Kirche auflöst. Die Gläubigen suchen in der Kirche mehr als das, was ihnen an Gemeinplätzen und Banalitäten durch die Politiker und Medienschaffenden geboten wird.“ (83)

Der scheinbar durch eine Mehrheit an Bischöfen und Laienfunktionären abgesicherte Diskurs des synodalen Weges entbehrt jeder demokratischen Legitimation und hat sich schon längst über das Dogma der Kirche hinausbewegt. Man „bestärkt sich selbst nur am Schein der medialen Macht und dem Umfang der finanziellen Mittel“. (107) Manche betrachten die Kirche – auch in ihrem innersten Kern – als ein von Menschenhand gemachtes Artefakt, das man jederzeit nach eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen modellieren kann.

Wahre Reform in der Kirche sieht indes anders aus: „Wir brauchen keine Kircheningenieure, Modellbauer, Zukunftsvisionäre und Planungsbürokraten, biblisch gesagt, Hirten, die sich selber weiden und sich wegducken, wenn das Bekenntnis zur Wahrheit Gottes gefordert ist […].“ (110f.) In der Kirche muss es zuerst und vor allem um den Glauben und die sakramentale Heilsvermittlung gehen.

Ein eigener Abschnitt ist der Geschichte, der Bedeutung und Funktion der Kongregation für die Glaubenslehre, deren Präfekt der Kardinal 2012‒2017 war, gewidmet. (67–91) Aufgabe der Glaubenskongregation ist es, Fragen des Glaubens und der Sitte zu entscheiden, um die Lehre Christi und der Apostel zu wahren, wie sie uns in der gesamten Tradition der Kirche überkommen ist. Sie ist in drei Abteilungen organisiert: eine, die für Glaubensfragen zuständig ist, eine andere für Disziplinarverfahren, die auch die Missbrauchsfälle betreffen, eine dritte für Fragen des kanonischen Eherechts. (71f.)

Nach der Übernahme der einstigen „Suprema“ – so genannt wegen der überragenden Stellung des Glaubens vor allem kirchenpolitischen Blendwerk – durch den Erzbischof von La Paz bleibt als Richtschnur des Denkens und Handelns in der Kirche nur noch der übermächtige Sabbel – Ausfluss einer ungesammelten Logorrhö (lat.: insana loquacitas), die jede disjunktive Logik von wahr oder falsch, gut oder schlecht, hinter sich gelassen hat, so dass selbst noch das principium contradicionis um seine dogmatische Abschaffung bangen muss. [Unmaßgebliche Ansicht des Rezensenten]

Angesprochen wird auch das Verhältnis der verschiedenen Religionen zueinander und der Versuch, eine one-wold-religion zu etablieren. Dabei ist eine Agenda zu beobachten, die durch mediales Framing die sperrigen Differenzen zwischen den religiösen Anschauungen aufheben will: „Das Herstellen von ideologisch gleichgeschalteten Gesellschaften durch ‚Mainstreaming‘ vollzieht sich heute gegen die wahre Religionsfreiheit.“ (149)

Heute floriert die Idee des Transhumanismus, der sich politisch in den Agenden von supranationalen Vereinigungen die Bahn bricht. Es geht dabei um die Verbesserung des Menschen (enhancement), die durch die Verschmelzung von Mensch und Maschine erreicht werden soll. Man will den Menschen radikal verändern, und zwar so, dass mittels Technologie ein neues Wesen entsteht. In den einschlägigen Publikationen seiner Proponenten werden Zukunftsutopien von eschatologischer Tragweite offeriert.
Der Kardinal macht darauf aufmerksam, dass die Konstrukteure dieser „posthumanen Entität“ die absolute Kontrolle über ihr „Produkt“ anstreben: „Eine selbsternannte Elite des politisch-finanziell-massenmedialen Komplexes sieht in der Freiheit der Religion und des Gewissens, die das Zentrum des Wesensvollzugs des Menschen […] bildet, die letzte Bastion, die der totalen Herrschaft von wenigen Menschen über die große Masse von ihresgleichen trotzt.“ (187)

In diesem Zusammenhang muss auch das social engineering mittels Gendersprache verstanden werden: „Die Gendersprache ist kein wissenschaftliches Kriterium, sondern ein Herrschaftsinstrument der Mediokren, geistig Minderbemittelten und autoritären Führer mit Blockwartmentalität. Die große Mehrheit der Deutschen lehnt den Missbrauch ihrer Sprache zur geistigen Terrorisierung der Menschen rundweg ab.“ (273)

Zum gleichen Themenkreis gehört auch das Diktum von der neuen Weltordnung, an die unsere Zeitgenossen sich gewöhnen sollen. Jene Sozialingenieure und Humantechniker, die an diesem Programm arbeiten, arbeiten auf der Grundlage genau jenes Vorverständnisses, das der Transhumanismus mit seiner Idee von der technologischen Vereinnahmung des Menschen bietet: „Das Programm einer ‚Neuen Weltordnung‘ unter der Voraussetzung einer totalen Ökonomisierung des Menschen, bei dem selbsternannte Finanz- und Politeliten als denkendes steuerndes Subjekt übrigbleiben, hat den Preis der Entpersonalisierung der Massen zur Folge. Der Mensch ist nur mehr das biologische Rohprodukt, das zu einem Computer in einem totalen Netz von Informationen aufgerüstet wird.“ (299)

Wer sich etwas tiefschürfender mit der Lage des Glaubens, besonders in deutschen Landen, und mit den Agenden einer gesellschaftlichen Umwälzung, die auf globaler Ebene ansetzen, befassen will, dem sei zur Lektüre des Buches geraten. Der Interviewband, der nicht nur theologisch Relevantes bietet, kann wirklich empfohlen werden.

7. März 2024

Prof. Dr. habil. Michael Stickelbroeck