Von der Persönlichkeit der Hirtenkinder

Lúcia Santos, Francisco und Jacinta Marto
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Für den spanischen Theologen Joaquín María Alonso zeigt sich in den verschiedenen Stufen, auf denen das Fatima-Geheimnis sich für Kirche und Welt manifestiert, der weise Ratschluß einer göttlichen Offenbarungsökonomie.[1] Am Anfang ist alles noch im Schweigen verborgen. Die Kinder werden verhört, geben aber nichts vom Geheimnis der Botschaften preis. Die erste Phase: la economía del secreto: da die Seher zunächst alle drei weder lesen noch schreiben konnten, stammt die erste schriftliche Redaktion aus der Feder Luzias, die diesen kurzen Bericht jedoch erst fünf Jahre später verfasste. Die gesamte Bekanntmachung trug sich in der langen Spanne zwischen 1917 bis 1929 zu. Für den Autor legt es sich nicht nahe, zwischen Fatima I und Fatima II zu unterscheiden, da beides zusammen gehört, auch wenn sich in Pontevedra neue Themen einstellen. Entscheidend ist die inhaltliche Kontinuität zwischen den Mitteilungen.[2]

In einem ausdrücklichen Mandat der Jungfrau darf man wohl den Hauptgrund für das lange Schweigen der Kinder sehen. In einer langen offiziellen Vernehmung Luzias (1924) zeigt sich, dass die Worte Mariens über ein Geheimnis, das Luzia zu bewahren habe, sich nicht auf die Dinge bezogen, die sie früher bereits den Richtern Formigāo, Marques und Pereira Lopez mitgeteilt hatte.
Aus den Jahren 1930–34 stammen zahlreiche Dokumente über die sogenannten „Neuen Themen“, von 1935 stammen die „ersten Erinnerungen“ Luzias, die auch auf das dem Herzen Mariens geweihte Innenleben Jacintas eingehen. Es geschieht erst im Jahre 1939, dass der Bischof von Leiria unter dem Eindruck des drohenden Krieges offiziell die Sühnehaltung als geboten nahe legt. Ab 1942 werden dann alle die neueren Themen verbreitet, und 1943 trägt sich die Abfassung des dritten Geheimnisses zu.

Francisco, dem nur ein kurzes Leben beschieden war – er starb zwei Jahren nach den ersten Ereignissen – wird von Alonso aufgrund seiner schweigsamen Natur und der Eigenart seiner persönlichen Aufnahme des in Fatima Mitgeteilten als „kontemplativer Extatiker“ (extatico contemplativo) bezeichnet. Im Unterschied zu den beiden anderen, Luzia und Jacinta, hörte Francisco bei den Erscheinungen nichts. Nicht durch satzhaft vernehmbare Auditionen und nicht durch konkrete gegenständliche Imaginationen, sondern durch das überhelle Offenbarungslicht, das sich seiner Seele tief einprägte, erfuhr er die göttlichen Mitteilungen, die bei ihm zu einer klaren Schau des unaussprechlichen bleibenden Inhaltes führte: „Er ist der ‚pastorcito vidente‘.“[3]
Dass er nichts vernahm, war bei ihm kein Defekt, der eine qualitativ verminderte Erfahrung bedingte, ging dies doch einher mit einer „höheren mystischen Wahrnehmung“.[4] Man könnte in seinem Fall auch von „intellektuellen Visionen“ sprechen.[5] Es waren visiones puras, die er empfing, während Jacinta und Luzia sinnlichere Wahrnehmungen, die dem Körperlichen näher sind, hatten.[6]
Auf diese Weise teilte sich ihm ein innergöttliches affektives Berührtsein aufgrund der Sünden der Menschen, eine tristeza de Dios mit, sowie die Erfahrung, Gott durch seine Gebete und Sühneleiden „trösten“ zu können. Noch die Leiden in seiner äußersten Krankheit werden zum Trost Gottes aufgewendet: „Ich leide, um unseren Herrn zu trösten.“[7]
Man braucht nicht die ganze Metaphysik der Unveränderlichkeit Gottes in einen univoken Pantheismus zu konvertieren, um zu zugeben, dass es in Gott ein wahres Leiden wegen der Sünden der Menschen gibt, das freilich mit seiner absoluten Seligkeit kompatibel bleibt. Die Mystik bedient sich des öfteren einer anthropomorphen Redeweise, um das hervorzuheben, was an sich unaussagbar bleibt.[8]

Einen wieder anderen modus recipientis haben wir bei Jacinta, Franciscos Schwester. Alonso charakterisiert sie als „Sühnopfer des Herzens Mariens“ (la victima de la reparación cordimariana). Jacinta war wohl am meisten getroffen durch die Worte: „Wollt ihr euch Gott anbieten, um all die Leiden anzunehmen, die er euch schicken wird, als Akte der Sühne (Widergutmachung) für die Sünden, durch die er beleidigt wird und um für die Bekehrung der Sünder einzutreten?“[9] Oftmals sagte sie: „O süßes Herz Mariens, sei meine Rettung!“ „Mir macht es solche Freude, Jesus zu sagen, dass ich ihn liebe.“ „Wenn ich ihm dies viele Male sage, scheint es, dass ich eine Glut im Herzen trage, die mich aber nicht verbrennt.“[10] Auch die Höllenvision muss in diesem Zusammenhang gesehen werden: sie diente in erster Linie dazu, auf die rettende Funktion des Herzens Mariens, für alle, die verloren zu gehen drohen, hinzuweisen.
Jacinta wurde ein besonderes Licht über die Verehrung des Herzens Mariens geschenkt: am 13. Juni sagt ihr die Jungfrau, „dass sie mich nie verlassen werde und dass ihr Unbeflecktes Herz meine Zuflucht sein werde und der Weg, der mich zu Gott führt.“[11]
In der sühnenden, dem Herzen Mariens geweihten Haltung Jacintas findet die theologische Lehre von der Zuwendbarkeit der Verdienste, demzufolge derjenige, der in der Gnade steht, seine Leiden in Quellen der Gnaden, das heißt in starke Heilungsmittel für ihn selbst und andere, eine lebensnahe Anwendung.

Das Zeugnis von der Engelserscheinung gewährt einen Eindruck vom hohen Maß an Innerlichkeit der Hirtenkinder: „Diese Worte des Engels gruben sich wie ein Licht in unseren Geist ein, das uns verstehen ließ, wer Gott war, wie sehr er uns liebte und geliebt sein wollte, auch den Wert Opfers, und wie sehr es ihm wohlgefällig war und wie es, wenn er es annähme, die Sünder bekehrte.“[12] Francisco sagt einmal darüber: „Ich merkte, das Gott in mir war, aber ich wusste nicht, wie es geschah.“[13] Oft ist auch vom Widerschein eines göttlichen Lichtes die Rede, das von den ausgebreiteten Händen Mariens ausgeht – eine Mitteilung, über die Luzia sagt: „… Mir scheint, dass dieser Widerschein das erstrangige Ziel hatte, uns ein Verstehen und eine besondere Liebe zum Unbefleckten Herzen Mariens einzugießen.“[14]

13. Dezember 2025

Prof. Dr. habil. Michael Stickelbroeck

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[1] Vgl. Joaquín María Alonso, Doctrina y Espíritualidad del mensaje de Fatima, Madrid 1990, 32.
[2] Vgl. zur Problematik einer möglichen Diskontinuität zwischen den früheren und späteren Mitteilungen die genaue Analyse von A. Ziegenaus, Das sogenannte Problem von Fátima I und II auf dem Hintergrund der neueren historischen Dokumentation, in: Ders., Verantworteter Glaube. Theologische Beiträge, Bd. 2, Buttenwiesen 2001, 205–226.
[3] Joaquín María Alonso, 114.
[4] Vgl. ebd., 119: „… una alta percepción de los fenómenos, mucho más alta que la de los otros videntes.“
[5] Vgl. ebd., 120.
[6] Vgl. ebd.: „… éste percíbe el fenómeno místico de las aparicones del mejor modo posible (…) en forma de visiones oculares interiores (…) mientras que Jacinta y Lucía lo perciben (…) como percepción sensorial más corporal y imaginativa.“
[7] Ebd., 127.
[8] Vgl. ebd., 128: „Existe, pues, un sufrimiento verdadero en Dios a causa de los pecados de los mombres, que es compatible con su felicídad absoluta. Lo primero lo descubre experimental la mística y nos la traduce en módolos humanos de un antropoformísmo normal (…). Pero cualquir explicación que atente a la inmutabilidad divina, debe ser rechazada por una metafísica y una teología justas del ser divina.“
[9] Ebd., 138.
[10] Ebd., 140.
[11] Ebd., 142.
[12] Vgl. ebd., 102.
[13] Vgl. ebd., 107: „Haciendo Francisco revelación de que eran los misterios del Corazón Inmaculdado los que les llevaban a esa luz tan grande que era Dios mismo.“
[14] Ebd., 108.