Zur Deutung der Botschaft von Fatima

Bild: Fátima in Portugal, von Renato Alves da Costa von São Paulo, Brasilien
(Lizenz: CC BY 2.0)

Die genaue Dokumentation des Fatima-Ereignisses und dessen umfassende, auf die Quellen Bezug nehmende Deutung, darf wohl als das Lebenswerk des spanischen Theologen Joaquín María Alonso angesehen werden.[1] Alonso wurde am 28. Dezember 1913 in Peñaranda de Bracamonte, nahe bei Salamanca, geboren. 1930 trat er in den Orden der Clarentiner von Plasencia ein, studierte Philosophie in Plasencia und dann Theologie in Zafra (Badajoz) und machte sein Staatsexamen in Sevilla. Er gab einige Jahre Vorlesungen in Dogmatik im Kolleg von Zafra, bevor er von 1946–1948 an der Gregoriana das Lizenziat und Doktorat erwarb. Danach setzte er seine Studien an der Sorbonne fort, um dann wieder nach Zafra zu gehen, wo er seine Professur wieder aufnahm, bis er 1957 nach Madrid wechselte.
Verfolgte er bis zu dieser Zeit das Projekt, eine Dogmatik zu schreiben, so orientierte er sich fortan in Richtung einer Theologie des Herzens Mariens. 1958 gründete er die Gesellschaft der Heiligsten Herzen, deren Publikationen er organisierte. Aus Alonsos Feder stammen wertvolle Arbeiten über Christologie, Sakramentenlehre, Ekklesiologie und Mariologie. Während der Konzilszeit arbeitet er mit P. Balic zusammen und präsentierte den Entwurf eines Kapitels über die Jungfrau Maria. Ab 1968 übernahm er die Herausgabe der „Ephemerides Mariologicae“, deren Direktion er bis 1977 innehatte. Ein großer Teil der in dieser Zeit darin veröffentlichten Beiträge konzentriert sich auf Fragen der Ökumene, der mit Fatima verbundenen Themen und mit der Mittlerschaft Mariens.[2]

Alonso, der wie kein anderer die Ereignisse von Fatima und ihre Wirkungsgeschichte kannte, lässt in seinem späten Werk, Doctrina y Espíritualidad del mensaje de Fatima, das erst 1990 erschienen ist, die reife Frucht seines jahrzehntelangen Forschens hervortreten. Es geht ihm um das, was wir heute unter „Fatima“ verstehen, also genauer um die Erscheinungen der drei Seherkinder, die jeweils auf den Monatsdreizehnten von Mai bis Oktober 1917 fallen, und um die späteren Mitteilungen an Luzia von 1921–1929, besonders jene in Pontevedra[3] und Tuy[4]. Alonso ist bemüht, die theologische Deutung der in Fatima gegebenen Offenbarungen aus dem systematischen Zusammenhang mit dem wesentlichen Gehalt früherer Marienerscheinungen zu gewinnen: Hier sind ihm vor allem die Rue de Bac und Lourdes wichtig, wobei er auch die Aussagen über die Herz-Jesu-Verehrung wie sie aus Paray-le-Monial (1965) bekannt geworden sind, zum Vergleich mit heranzieht.
Methodisch betrachtet, schlägt Alonso einen Weg ein, der von den tatsächlichen Geschehnissen über die darin hervortretenden Themen zum inneren theologischen Gehalt der Offenbarungen und schließlich zu deren Zentrum, der Selbsterschließung des Unbefleckten Herzens Mariens, vorstößt.

Worin sieht Alonso die eigentliche theologische Einheit der sich über einen so langen Zeitraum hin erstreckenden Geschehnisse? Nach seiner Ansicht lassen sich zwei Aspekte der dem Evangelium entsprechenden Botschaft ausmachen: der eine betrifft die Bekehrung der Seelen und ihr ewiges Heil, der andere die Etablierung der Andacht zum Unbefleckten Herzen Mariens. Dabei scheint die finis operis, die in der Bekehrung der Seelen liegt, dem finis operantis, der Verherrlichung des Unbefleckten Herzens, die von Gott zuerst intendiert ist, subordiniert zu sein. Bei der zweiten Erscheinung heißt es: „Gott will in der Welt die Verehrung meines Unbefleckten Herzens aufrichten. Die Seelen, die sie üben, sind von Gott geliebt wie Blumen, die von mir hingestellt wurden, um seinen Thron zu zieren.“ Der Autor zieht auch die Wort Jacintas an Luzia in Erwägung: „Du wirst noch hier bleiben, um ihnen zu sagen, dass Gott in der Welt die Andacht zum Unbefleckten Herzen aufrichten will.“

Gott scheint irgendwie alles daran gebunden zu haben: Krieg und Frieden, die Zerstörung ganzer Nationen, die Verfolgungen der Kirche, die Leiden des Papstes und das Martyrium der Guten. Und zuletzt wird der eschatologische Sieg dem Unbefleckten Herzen gehören. Aus diesem Grund geht es nach göttlichem Ratschluss in Fatima zuerst und vor allem um die Verehrung des Unbefleckten Herzen. Im Vergleich mit den anderen in Fatima präsentierten Themen kommt ihr ein formaler Charakter (ratio formalis) zu, so dass sie die anderen Aussagen in ihrer eigentlichen Bedeutung allererst ins Licht hebt.[5] Ohne dieses formale Moment hätte Fatima nie den kirchlichen und weltlichen Widerhall gefunden, den die Verbreitung der Botschaften ausgelöst hat. Auch die hier anvisierte innere Einheit der über die Jahre sich erstreckenden Botschaften findet ihren Grund in diesem formalen Moment: es stellt nicht einfach eine Form der Marienverehrung dar, sondern hebt ab auf die Person selbst, die sich unter dem Aspekt des Herzens, der ja das ihr am meisten Eigentümliche darstellt, zu erkennen gibt.

Im natürlichen Symbol des Herzens leuchtet die ganze Liebe Mariens zu den Menschen auf, die es zu Jesus zurückzuführen gilt. In dem göttlichen Licht, das die „Jungfrau vom Rosenkranz“ von sich ausgehen lässt, empfangen die Seher eine vom Herzen herkommende Botschaft der göttlichen Liebe, die sich in diesem Herzen zu uns hin übersetzt und als menschliche Affektivität zur Gegenliebe einlädt. Damit einher geht die Einladung zu interzessorischem Gebet (prex), das als fürbittendes Einstehen für andere seinen Weg notwendig über das Herz Mariens nimmt.[6]
Dem aus dem Herzen Mariens entströmenden Licht verdanken die eschatologischen Gehalte der Fatima-Botschaft und hier wiederum die Mysterien des Bösen, die Hölle, Russland mit seinem ihm eigenen mysterium iniquitatis, das Auftreten von verschiedenen angekündigten Strafen, ihre Aufhellung, denn am Ende steht der die Kirche in eine neue Zeit führende eschatologische Triumph dieses Herzens.

Es ist mehr als eine lose Verbindung, wie sie ja auch zu anderen Marienerscheinungen besteht; es gibt eine dreifache Klammer, die Pontevedra und Tuy mit den ersten Botschaften aus dem Jahr 1917 zu einer unauflöslichen Einheit verbindet: die Fäden zwischen den zeitlich versetzten Momenten ist nach Alonso von historischer, theologischer und symbolisch-repräsentativer Art. Er nennt die späteren Botschaften an Sr. Luzia das „integrale und wesentliche Komplement“ (complemento integral y esencial) der ersten Mitteilungen.

Nach den beglaubigten Dokumenten geht aus den Geschehnissen selbst als erstes ein historischer Zusammenhang hervor: Was im Juli 1917 in der Cova da Iria angekündigt worden war, hat sich 1925 in Pontevedra und 1929 in Tuy erfüllt, denn Maria hatte vorhergesagt: „Ich werde kommen und die Weihe Russlands verlangen …“
Die Bitte um die Sühnekommunion und die Weihe Russlands machen die beiden Bestandteile des Geheimnisses aus.

Würde man eine Dichotomie zwischen Fatima I und Fatima II einführen, so käme dies einer Auflösung der integralen Ganzheit gleich. Nur einen Teil für echt und authentisch zu nehmen hieße, den Wert des Ganzen zu negieren. Man würde für den ersten Teil die Tatsache eines Versprechens annehmen, das leer geblieben wäre. Auf diese Weise würde das gesamte Zeugnis Luzias zerlegt werden. Darum gilt: „Die Integrität der Botschaft erfordert die Authentizität der Ereignisse von Pontevedra und Tuy, die ein notwendiges historisches Komplement sind.“[7] Ohne sie würde nur eine Verheißung übrig bleiben, die sich nie erfüllt hätte. Und so gibt es auch eine innere theologische Einheit: Fatima und Pontevedra–Tuy verhalten sich zueinander wie Ostern und Pfingsten, wie das Versprechen einer erneuten Zuwendung und dessen Einlösung.[8]

Wenn alle Themen, die in Fatima aufleuchten, zusammengeschaut werden, dann weist das integrale Ganze auf einen theologischen Kernpunkt: das mütterliche und mitleidende Herz der Unbefleckten Jungfrau. Dies hat auch eine lehramtliche Bestätigung in der Aussage Pius XII. über die „Unbefleckte Königin, deren mütterliches und mitleidendes Herz das Wunder von Fatima gewesen ist“, gefunden.[9]
Aus dieser Perspektive stellt sich Fatima auch als eine Fortführung der Impulse von Paray-le-Monial dar, indem es die beiden Herzen Jesu und Mariae, die Gott in seinem Erlösungswerk zu einer untrennbaren Wirkeinheit zusammen geschlossen hat, auch als symbolische Bezugspunkte der Verehrung vereint hat.[10]

13. Oktober 2025

Prof. Dr. habil. Michael Stickelbroeck

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[1] Die Forschung ist freilich in den letzten zwanzig Jahren weiter gegangen und hat auch viele neue Aspekte zu Tage gefördert. Alonso setzte den Startschuss zu der umfangreichen portugiesischen Dokumentation Doctrina y Espíritualidad del mensaje de Fatima.
[2] Vgl. Domiciano Fernandez, R. P. Joaquin M. Alonso, CMF, in: Eph Mar 32 (1982) 274–300. Dieser Beitrag enthält auch eine vollständige Bibliographie der Werke Alonsos.
[3] Erscheinung der Muttergottes mit dem Jesuskind: 10. Dezember 1915.
[4] In der Nacht vom 13.–14. Juni 1929.
[5] Vgl. Alonso, 56: „Ese tema es de ‘carácter formal’; hace que todos los demás vengan a ser específicamente fatimitas.”
[6] Vgl. ebd., 58: „… se trata de una oración de intercesión que pasa necesariamente por el Corazón de María, si quiere ser ‘fatimita’. No se trata tampoco de una reparación en general, sino que concretamente se trata siempre de esa especial reparación pedida por las ofensas cometidas contra el Corazón Inmaculado y Doloroso de María.”
[7] Vgl. ebd., 324.
[8] Alonso weist darauf hin, dass die meisten Autoren ein solches theologisches Verhältnis anerkennen. Vgl. ebd., 325.
[9] Vgl. ebd., 327.
[10] Vgl. ebd., 326.