So sehr der Mensch sich auch bemüht, mit Hilfe der Gnade auf Gottes Willen einzugehen und die natürlichen und übernatürlichen Tugenden in sich zu entfalten, so sehr schleichen sich in seine willentliche, von seiner Sinnlichkeit gespeiste Motivation immer wieder unlautere, aus der Selbstherrlichkeit entspringende Beweggründe ein. Sie rühren aus dem geheimnishaften Schuldzusammenhang der ganzen Menschheit, den wir Erbsünde nennen und der sich in einem allgemeinen „Hang nach unten“ geltend macht. Die unlautere Motivation rührt teils aus einer mangelnden rechten Aufmerksamkeit auf das, was Gott in jeder Stunde von uns will, aus der Trägheit des Herzens, die der im Evangelium geforderten Wachheit entgegensteht. Wieviel Eitelkeit, Selbstgefälligkeit, Fixiertheit auf ein selbstentworfenes „Programm“, Nachlässigkeit, Feigheit, Härte, Bitterkeit, Wankelmut, starrsinnige Enge und Herrschsucht mischen sich nicht in das durchaus aufrecht gemeinte religiös-sittliche Streben? Verborgene, in den seltensten Fällen halbwegs bewusste Egozentrik ist es, die unsere Entscheidungen von innen, von ihren Motiven her, mit einem ganzen Gewebe sündhafter oder schiefer Absichten infiziert. So kommt es, dass die tugendhaftesten Werke oft von eitler Selbstgefälligkeit oder von einem Schielen auf den eigenen Vorteil begleitet sind. In das Wahrnehmen von Verantwortung dringt die Herrschsucht, das Ergötzliche an der Macht, und selbst die vom Glauben erleuchtete Willensstärke ist nicht immer frei vom Beigeschmack der Rechthaberei.
„Der Mensch müsste also Gott werden, um seiner Unvollkommenheit entrinnen zu können, oder er muss ganz von Gott durchformt werden. Dies kann jedoch nur in einem radikalen Verwandlungsprozess geschehen, zu dem das irdische Leben innerhalb seines geschichtlichen Verlaufs keinen Zugang bietet. Je näher ein Mensch bei Gott ist, je stärker er also die Heiligkeit Gottes spürt, umso mehr wird er unter der Unfähigkeit leiden, alle Sünden zu vermeiden“ (Michael Schmaus, Von den letzten Dingen, S. 535).
Man wird darüber hinaus auch in Rechnung stellen müssen, dass begangene Sünden, selbst wenn sie durch vollkommene Liebesreue und Bußsakrament wirksam vergeben wurden, entstellende Spuren im Menschen zurücklassen. Alle Reste der Sünde, die irgendwie eine Verminderung des Liebesvermögens darstellen, können nur durch einen längeren Prozess der Läuterung, der einen Bußweg darstellt, ausgebrannt werden. Erst wenn jede Neigung zur Selbstverwirklichung außerhalb der Gnade und damit gleichsam an Gott vorbei, zur Gott abgewandten Selbstherrlichkeit und Egozentrik in ihm erloschen ist, kann der Mensch, nunmehr bis in seine tiefsten Schichten von der Liebe geformt, in die ewige Liebe Gottes eingehen. Den Glutofen der göttlichen Liebe würde alles, was noch mit den Schlacken der Sünde durchsetzt, noch nicht vollkommen rein und lauter ist, nicht ertragen können. All dies würde augenblicklich von der Kraft des göttlichen Liebesfeuers versengt werden. Aus diesem Zusammenhang ergibt sich die Notwendigkeit, dass alle, die in diesem Leben noch nicht durch persönliche Heiligkeit reif geworden sind für die absolute Liebe Gottes, nach ihrem Tode noch der Läuterung bedürfen.
Der deutsche Begriff „Fegfeuer“ ist etwas unglücklich, um das Wesen der noch ausstehenden Läuterung anzugeben, denn in ihm wird die Vorstellung vom Feuer, die in der lateinischen Benennung fehlt, stark unterstrichen. Treffender ist darum der lateinische Ausdruck purgatorium, für den es im Deutschen kein Äquivalent gibt, bezeichnet er doch den Zustand der Läuterung, ohne die symbolische Assoziation an ein Feuer hervorzurufen. Er weist hin auf den sühnenden Charakter der von Gott festgesetzten Strafe für die noch ungetilgten lässlichen Sünden sowie für die Folgen der vergebenen Schuld, die dem gewordenen Wesen des Menschen als Spuren eingezeichnet sind. Dass der Sünder die positive Möglichkeit hat, diese „Reste“ der Sünde, die ihn in den Augen Gottes unreif für die Liebe erscheinen lassen, abzutragen, das Purgatorium auf die Anverwandlung an Gott hin zu durchleiden, ist eine von Gott gebotene Chance. Was er zeit seines Lebens an Selbstheiligung versäumt hat, kann er jetzt gewissermaßen nachholen. Darin zeigt sich der Weg der Erlösung, wie Gott ihn vorgesehen hat: Er schließt den Menschen in jeder Weise als einen Mitbeteiligten ein. Die Sündenvergebung wirkt nicht wie ein Zauber, sondern so, dass der Mensch, wenn auch nicht mehr aktiv handelnd und damit im eigentlichen Sinn verdienstlich, gutmachen soll, was er gefehlt hat.
In den theologischen Kontroversen mit den Orientalen über das Fegfeuer ging es um geringfügige Lehrunterschiede, so um die Frage, ob in 1 Kor 3,13 ausschließlich das Prüfungsfeuer am Jüngsten Tag gemeint sei, was im Osten vertreten und im Westen verneint wurde. Diese Diskussion, die über die Konzilien von Lyon (1274) und Florenz (1439–1445) weiterdauerte, stellte nie die postmortale Reinigung als solche in Frage. Anders war es schon in den Auseinandersetzungen mit reformatorischen Standpunkten: Die Reformatoren lehnten, mit Ausnahme des frühen Martin Luther, das Fegfeuer ab, weil es der Alleinrechtfertigung durch Christus im Wege steht und mit der katholischen Lehre von der Schlüsselgewalt (Ablass!) und von der Fürbitte der Heiligen einen Zusammenhang aufweist. Luther hatte behauptet, das Fegfeuer könne aus keiner kanonischen Schrift belegt werden, die Seelen im Reinigungsort seien ihres Heils nicht unbedingt sicher, könnten sich keine Verdienste erwerben, sie würden sündigen, wenn sie sich nach Ruhe sehnten, und das Gebet der Lebenden würde den Seelen der Verstorbenen eher schaden.
Das Konzil von Trient (1545–1563) nahm zunächst im Rechtfertigungsdekret und dann im Dekret über das Purgatorium dagegen Stellung: Die Reinigung nach dem Tod ist eine Wirklichkeit. Den Verstorbenen, die der Läuterung bedürfen, kann durch Fürbitten, aber vor allem durch das eucharistische Opfer geholfen werden. Was im Läuterungszustand überwunden werden muss, der eigentliche Gegenstand der Läuterung, sind die sogenannten „zeitlichen Sündenstrafen“, denen im Unterschied zur ewigen Sündenstrafe der Hölle Grenzen gesetzt sind. Auch die noch bestehende Neigung zur Sünde muss darin abgebaut werden. Sünde im strikten Sinn dagegen ist nicht Gegenstand der Läuterung. Sie muss vergeben werden. Vergebung aber wird dem Menschen in diesem Leben geschenkt, wenn er sich durch Reue und Buße wieder Gott zuwendet. Im Wartezustand, der die Phase der Läuterung kennzeichnet, geschieht etwas anderes: die mit Strafe verbundene innere Umwandlung, die die Intensität der Liebe zu Gott steigern und die Hindernisse für die völlige Hingabe wegnehmen soll.
Dem braucht nicht zu widersprechen, was Thomas von Aquin betont, dass im Purgatorium die lässliche Sünde durch einen Liebesakt getilgt werde, geht er doch davon aus, dass das peccatum (das auch für „Sündenfolge“ steht) im Fegfeuer augenblicklich weggenommen wird, während das, was zäher haftet und der Reinigung widersteht, die Sündenneigung, erst in einem langsamen Läuterungsprozess getilgt werde. Es entspricht der zeitlichen Verfasstheit des Menschen, der bleibend auf seinen Leib hingeordnet ist, wenn Gott verwandelnd und bessernd auf ihn als einem von der Sünde Gezeichneten einwirkt, um ihn auf die höchste Teilnahme an seinem dreifaltigen Leben zu bereiten. Was hier als Läuterung bezeichnet wird, ist ein durch Schmerz erwirktes, gesteigertes geistiges Leben der Erkenntnis und der Liebe. Zum Schmerz wird für die vom Körper getrennten Seelen vor allem, dass sie das höchste Gut, die beglückende Nähe Gottes, auf den hin sie geschaffen sind, noch entbehren müssen. Es handelt sich allerdings um einen Schmerz, der von der freudevollen Zuversicht getragen ist, zu den Geretteten zu gehören und nur noch durch eine „Zeit“ des Wartens von der Vereinigung mit Gott entfernt zu sein. Darum sind die Seelen im Purgatorium zugleich im Leiden und zugleich im Glück. Während sie dort die sündige Selbstherrlichkeit immer mehr abbauen, können sie keine weiteren Sünden mehr begehen. Ihre Willensrichtung ist definitiv auf Gott hin zentriert. Die ungetrübte Einsicht in die Hässlichkeit der Sünde, die ihnen jetzt durch das Licht Gottes geschenkt ist, macht ihnen den Abfall von ihm unmöglich. Deshalb wäre es falsch, beim Fegfeuer an eine Hölle auf Zeit zu denken. Es ist Vorhimmel, nicht Ort des Verlassenseins und der Gottferne.
Eine verzehrende Sehnsucht nach der noch aufgehaltenen Vereinigung mit Gott macht den primären Leidcharakter der Läuterung aus. Welche weiteren Strafen den Reinigungsprozess begleiten und beschleunigen, darüber lässt sich nichts Sicheres ausmachen. Die Tradition kennt neben der eigentlichen Strafe, dem einstweiligen Ausschluss aus der beseligenden Gottanschauung, noch eine solche der Empfindung (poena sensus). Es bleibt freilich schwierig zu erklären, wie die vom Leib, dem Medium des Kontaktes mit der sinnlichen Welt, getrennte Seele eine Einwirkung von materiellen Dingen soll erleiden können.
Dafür scheint zu sprechen, dass nicht nur das Willensvermögen, sondern auch die mehr auf die leibliche Sphäre bezogenen sinnlichen Kräfte und ihr Strebevermögen von Gott durchdrungen werden müssen, der aber jetzt noch – anders als in der seligen Schau – durch das Medium materieller Dinge und nicht unmittelbar auf die verschiedenen Seelenvermögen einwirkt. Schließlich ist die menschliche Seele bleibend auf die materielle Welt und auch auf ihren konkreten Leib mit seinen sinnlichen Antrieben bezogen. Sie kann deshalb von der materiellen Welt diverse Einflüsse erfahren. Dass es ein Purgatorium geben muss, folgt aus dem Sachverhalt, dass auch nach vergebener Schuld noch Bestrebungen in der Seele vorkommen, die der vollen Vereinigung mit Gott im Wege stehen.
Der Glaube an den Läuterungszustand stärkt in der Gemeinschaft der Glaubenden die Solidarität und Verbundenheit zwischen den Lebenden und Verstorbenen, denn mit dieser Glaubenswahrheit verbindet sich in der ganzen Liturgie der Kirche seit den Anfängen die Überzeugung, dass die im Glauben Stehenden den Seelen im Purgatorium in vielfältiger Weise helfen können. Sie ist Ausdruck dafür, dass die in Christus gegründete Gemeinschaft vom Tod nicht zerstört werden kann und dass die Toten den Lebenden, wenn auch in einer anderen Seinsweise, nahe sind. Was die lebendigen Glieder der Kirche in Liebe und Treue den Abgeschiedenen zuwenden, bringt ihnen Trost und Freude: Dass die Lebenden für die Verstorbenen einstehen können, findet seinen Grund im Gesetz der heilshaften Stellvertretung, nach dem der eine vor Gott für den anderen eintreten kann. Alle Widrigkeiten des Lebens, die in standhafter Geduld ertragen werden, die freiwilligen Opfer und Bußleistungen und gerade auch das, was um des Glaubens willen erlitten wurde, kann als stellvertretende Genugtuung angeboten und mit einer Fürbitte für die Seelen der Verstorbenen vor Gott gebracht werden.
Thomas Morus, in seiner Zeit sehr darum bemüht, dass die Glaubenssubstanz in seiner Kirche gewahrt werde, war über die Vorstellung, Gebete und die Hl. Messe für Verstorbene könnten aufhören, genauso entsetzt wie über jemanden, der seine Liebsten vergäße und in der Ferne verkommen ließe. Der Läuterungsort und Zustand rühre aus der Gottesliebe her. Er bedeute aber dennoch zunächst Qual, wenngleich die Seelen dort überglücklich seien, weil sie schon wüssten, dass sie bald bei Gott sind.
Im ersten Brief an die Korinther schreibt Paulus: „Nach der mir von Gott verliehenen Gnade legte ich wie ein kundiger Baumeister den Grund, ein anderer baut darauf weiter. Doch sehe ein jeder, wie er weiterbaut. Denn einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist: Jesus Christus. Ob einer auf diesem Grund Gold baut oder Silber, Edelsteine, Holz, Heu oder Stroh, eines jeden Werk wird sichtbar werden; denn der Tag wird es erweisen. Er offenbart sich ja im Feuer. Und das Feuer wird es erproben, wie das Werk des einzelnen beschaffen ist. Hält das Werk, das einer baute, stand, wird er Lohn empfangen. Wessen Werk aber niederbrennt, der wird Schaden erleiden, er selbst jedoch wird gerettet werden, doch so wie durch Feuer hindurch“ (1 Kor 3,9–15).
Wie oft wird sich einem Christen schon hier und jetzt das Gebet aufdrängen, Gott möchte ihn von allen Schlacken der Selbstliebe und Ich-Verstricktheit reinbrennen. Sie umgeben ihn ja wie eine Isolierschicht und trennen ihn von seiner wahren Bestimmung. Der normale Christ, wenn er einmal diesen seinen Namen begreift, sehnt sich darum nach dem Fegfeuer, wo und wie auch immer es ihm bestimmt sein mag. Der hl. Thomas Morus redet in Bildern, wenn er hierzu bemerkt: „Der Verstorbene, der in das Jenseits mit einem Werk aus Holz, Heu und Stroh eintritt, wird nicht so unversehrt die reinigenden Flammen durchschreiten wie der, dessen Werk entweder aus reinem Material beschaffen oder aber durch Sühne vor seinem Tode gereinigt worden ist. Am reinen Gold vermag das Feuer nicht zu zehren“ (Supplication of Souls, 1529).
Alles, was von uns für die Seelen aufgewendet wird, findet seine Mitte in der sühnenden Hingabe Christi am Kreuz, die in der Eucharistie wirksame Gegenwart wird. So besteht denn auch die effektivste Hilfeleistung für die Verstorbenen in der fürbittenden Darbringung der Eucharistie. In diesem Sinne sagt der hl. Cyrill von Jerusalem: „Nachdem wir das geistliche Opfer, den unblutigen Dienst vollendet haben … beten wir für die bereits entschlafenen heiligen Väter und Bischöfe und überhaupt für alle unsere Verstorbenen. Wir glauben nämlich, dass die Seelen, für welche während des heiligen, unheimlichen Opfers gebetet wird, sehr großen Nutzen davon haben … Wir bringen Gott für die Verstorbenen, obwohl sie Sünder waren, unsere Gebete dar … bringen den geopferten Christus für unsere Sünden dar“ (Mystagogische Katechesen 5,8–10).
9. November 2021
Weihefest der Lateranbasilika
Prof. Dr. habil. Michael Stickelbroeck