Vor einiger Zeit stieß ich auf einen Cartoon aus Amerika. Er zeigt eine Szene aus einer Quizshow mit dem Titel „Facts don’t matter“ („Tatsachen spielen keine Rolle“). Der Spielleiter sagt zum Kandidaten: „Tut mir leid, Arthur, deine Antwort war eigentlich richtig, aber Paul hat seine Meinung lauter geäußert, also bekommt er den Punkt. Außerdem geht ein zusätzlicher Punkt an Sue, weil sie sich durch deine Antwort beleidigt fühlte.“
Genauso läuft es längst, in Politik, Gesellschaft, Wissenschaft und im kirchlichen Umfeld: Die Vernunft hat gegen lautstark geäußerte Gefühle keine Chance mehr. Aktivisten können biologische Tatsachen, zum Beispiel die Zweigeschlechtlichkeit, leugnen; wenn sie nur ihr eigenes Empfinden in den Vordergrund stellen und zum Maßstab aller Dinge machen, steht jeder, der auf rationale Argumente und wissenschaftlich bewiesene Tatsachen setzt, auf verlorenem Posten. Manipulation durch Emotionalisierung und künstliche Aufregung – das ist das Modell und die Taktik derer, die ihre Feindbilder völlig faktenfrei pflegen, um Gesellschaft, Politik, Wissenschaft und Kirche in ihrem Sinn zu „reformieren“. Beweise für Behauptungen müssen nicht erbracht werden, Empfindungen und Gefühle reichen. Es gibt keine objektive Wahrheit. Da niemand objektiv sein kann, jeder also zwangsläufig subjektiv ist, hat jeder seine eigene Wahrheit. Der richtige Standpunkt ist die Relativierung. Das bedeutet nicht nur, dass Wahrheit relativ und subjektiv für jeden Menschen ist, sondern auch, dass jede Ethik und Moral individuell und kulturell bedingt sind. Gut und Böse, Richtig und Falsch existieren nicht. Es gibt keine Tatsachen, lediglich Interpretationen.
In vielen Ländern westlicher Prägung ist der Relativismus, eine Spielart des Marxismus, zur neuen Staatsphilosophie avanciert. Winfried Weier folgert, „dass sie [deren Lehrmeister] alle Subjektivität als das einzig Objektive und alle Objektivität als das letztlich immer Subjektive auszulegen suchen … Diese Objektivität des Subjektiven ist der Kernpunkt ihrer ganzen Lehre, der Inbegriff der Wahrheit.“[1]
Die alten Römer haben so etwas als petitio principii bezeichnet, als einen Zirkelbeweis. So werden Aussagen durch Behauptungen begründet, die als wahr vorausgesetzt werden, ohne diese zu begründen. Der „Synodale Weg“ hat sich diesen zu eigen gemacht. Man stützt sich auf Behauptungen, ohne sich auch nur die Mühe zu machen, die offensichtlichen Widersprüche im Hinblick auf die Lehre der Kirche zu entkräften.[2]
Beredtes Anschauungsmaterial für die eingangs beschriebene Haltung lieferte etwa die IV. Vollversammlung des „Synodalen Wegs“ in Frankfurt in beschämendem Überfluss.
Als der Grundlagentext „Leben in gelingenden Beziehungen – Grundlinien einer erneuerten Sexualethik“ an der Sperrminorität von 21 Bischöfen gegen 33 Ja-Stimmen scheiterte, obwohl die Synodalversammlung ihn mit 82 Prozent Zustimmung angenommen hatte, herrschte zunächst kollektives Entsetzen, Fassungslosigkeit und die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm. Dann aber brach er los: Es war die Stunde des großen Synodaltheaters; mit Vorwürfen, Protestplakaten, Nervenzusammenbrüchen und Beschimpfungen („Verrat! Heckenschützen! Feigheit!“ etc.) brach sich die Wut Bahn. Vor laufender Kamera brach die Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken in Tränen aus. Ein stundenlanges Kesseltreiben, eine regelrechte Hetzjagd gegen die „Verräter“ begann.
Eine anwesende Journalistin schrieb: „Man führt Debatten so, dass, wer sich gegen die Mehrheitsmeinung ausspricht, ‚fertig gemacht‘ wird. Sofort und gnadenlos. Synodale, die einfache Sachargumente gegen das Mehrheitsgefühl äußern, bekommen postwendend und sofort die Quittung: Sie werden zurechtgewiesen, ihnen wird über den Mund gefahren … Alles an dieser Art und Weise der Diskussion macht es zu einem psychischen Kraftakt für Anhänger von Minderheitenmeinungen, offen zu sagen, was sie denken. Und wenn sie es sagen, will es ohnehin keiner hören. Und für dieses Nicht-Hören-Wollen werden nun die verantwortlich gemacht, die sich nicht schreiend und agitierend Gehör verschafft haben … Selbstkritik ist hier ein Fremdwort. Dies ist kein synodales Miteinander. Dies ist ein Tribunal.“[3]
Die Taktik zeigte Erfolg, der Widerstand der meisten „Verräter“ wurde gebrochen, sie stimmten den weiteren Texten zu.
Was hat dies alles noch mit Kirche, mit der Verkündigung des Evangeliums und dem Glauben zu tun? „Eine Grundhaltung des Evangeliums“, so Andreas Wollbold, Professor für Pastoraltheologie an der LMU München, „ist die Einfachheit. Keine Verstellung, keine Tricks, keine Doppelzüngigkeit, keine Versuche, hintenherum mit bewusster Zweideutigkeit Dinge durchzusetzen. Das ist eine Strategie, die man in politischen Hinterzimmern findet, die aber in der Kirche nichts zu suchen haben.“[4] Dem ist zuzustimmen; mehr noch: Die Verantwortlichen für dieses „Theater“ denken wohl: Der Zweck heiligt die Mittel, ganz im Sinn der „Political Correctness“ und der „Cancel Culture“, denen sich auch in Theologie, Lehramt und Kirche alles unterzuordnen hat.
„Cancel Culture ist Zensur im Namen einer höheren Gerechtigkeit und soll dem Schutz vermeintlich vulnerabler Personengruppen dienen. Deren Schutzbedürfnis wird mit einem abstrusen Sicherheitsbegriff begründet […]. Sicherheit bedeutet also nichts anderes als den Schutz vor einer Meinung, die nicht der eigenen entspricht. Für dieses Ziel müssen alle Stimmen zum Schweigen gebracht werden, die die Welt anders betrachten als die vulnerable Person. Jedes Mittel gilt als gerechtfertigt: Mobbing, Gewalt und die Zerstörung beruflicher Existenzen.“[5]
Offenbar sind wir an dem Punkt angelangt, den ein russisches Sprichwort wie folgt beschreibt: „Die Toleranz wird ein solches Niveau erreichen, dass intelligenten Menschen das Denken verboten wird, um die Gefühle von Dummen nicht zu beleidigen.“
Betrachten wir nun einige schon verabschiedete Texte und ihre Inhalte, um beurteilen zu können, welche „giftigen Blüten“ diese „feindliche Übernahme“ der katholischen Kirche in Deutschland hervorgebracht hat.
In den synodalen Texten, alle sehr abundant und keineswegs profund, voller Platitüden, zusammenhangloser Behauptungen und infamer Unterstellungen, geht es nicht um die Erneuerung der Gläubigen in Jesus Christus, sondern um die Kapitulation vor einer Welt ohne Gott. Das monotone Thema aller Themen ist die Sexualität, insbesondere die Homosexualität. Sexualität wird aber nicht als Gabe Gottes an die Menschen als geschaffenen Personen (in unserer männlichen oder weiblichen Natur) verstanden, aus der Verantwortung folgt als Vater und Mutter an Gottes Schöpfungswerk und seinem universalen Heilswillen gegenüber den eigenen Nachkommen mitzuwirken, sondern als eine Art Droge, um das nihilistische Grundgefühl mit einer maximalen Lustbefriedigung zu betäuben.
Die Synodalen – und mit ihnen die zustimmenden Bischöfe –, haben keine „Neue Sexualmoral“ konzipiert; im Gegenteil, sie haben die Sexualmoral einfach abgeschafft. Bernhard Meuser bringt es auf den Punkt: „Sie haben sich mit einer ‚Moral‘ angefreundet, die in keiner Weise mehr kulpiert – also Menschen mit der Abweichung von Gottes Gebot konfrontiert. Die Hauptfunktion der der neuen Moral ist, dass sie exkulpiert. Sie funktioniert als Tranquilizer – dazu da, gutes Gewissen zu machen, nicht länger, es zu schärfen. Die sexuelle Abweichung wird ohne Ansehen der näheren Umstände salviert. Mit einem Nebeneffekt: Die Kirche restituiert sich wieder als moralische Instanz. Sie tut es, indem sie Verkündigung einstellt, außer Toleranz nichts mehr predigt und Ermächtigungen für Regelbrüche wie Kamellen beim Rosenmontagszug verteilt. Statt: ‚Du musst dein Leben ändern, um der Regel gerecht zu werden‘, sagt sie: ‚Wir ändern die Regel, damit du dein Leben nicht ändern musst‘. Damit ihre Ermächtigungen nicht Ermächtigung zum Bösen sind, schafft sie den Unterschied zwischen Gut und Böse ab.“[6]
Die neue Moral erlaubt alles, was gefällt, sofern es dem andern auch gefällt und dieser frei zustimmt. Am Anfang aller Dinge stehen nicht Gott und seine Gebote, sondern das „Gottesgeschenk“ (Bischof Overbeck von Essen) der autonomen Freiheit des Menschen und sein jeweils individuelles Begehren. Der Markenkern dieser neuen Moral ist ihre Nichtmoral, ihre Ethik besteht in der ethischen Entkernung, die sich im Gestus anforderungsloser Menschenfreundlichkeit gefällt. Gott rückt uns nicht mehr auf die Pelle, er tut nicht mehr weh, wird zum wohlwollenden Zuschauer unserer Handlungen und ist eigentlich überflüssig, da der Mensch ja selber weiß, was gut für ihn ist.
Diese „neue Nicht-Moral“ ist meilenweit von der Heiligen Schrift entfernt, ignoriert das Lehramt, ist penetrant auf den Anschluss an die Welt bedacht, dem „Zeitgeist“, den „Zeichen der Zeit“ und einem falsch verstandenen „Glaubenssinn aller Gläubigen“ als neuen Offenbarungsquellen huldigend und folgend.
Kardinal Brandmüller hat das Ergebnis der Frankfurter Vollversammlung als „Massenabfall von Schrift und Tradition, den Quellen des von Gott geoffenbarten Glaubens“, bezeichnet.[7]
Es ist ein wahrhaft gespenstisches Szenario, eine wahre Tragödie, das Zerrbild einer Kirche, die keine verlorenen Seelen mehr rettet, sondern nur noch verletzte Egos und Gefühle.
22. Juli 2024
Hl. Maria Magdalena
P. Peter Mettler MSF, Dr. theol., lic.iur.can.
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[1] Weier, Winfried, Gibt es objektive Wahrheit? Auseinandersetzung mit der neuzeitlichen Erkenntniskritik, Paderborn 2014, 202.
[2] Vgl. Weimann, Ralph, „Welche Reformen brauchen wir in der Kirche?“, in: Forum Katholische Theologie, Jg. 38, Heft 3, 2022, 174–185, 184f.
[3] Diouf, Anna, „Eklat beim Synodalen Weg: Haltet stand!“, in: https://neueranfang.online, 8. September 2022.
[4] Wollbold, Andreas, „Kirche hat ihre Sendung verloren. Auf der Strecke geblieben“, in: Binninger, Ch./ Gerl-Falkovitz, H-B./ Menke, K-H./ Ohly, Ch. (Hg.), Was ER euch sagt, das tut. Kritische Beleuchtung des Synodalen Weges, Regensburg 2021, 29–35, 34.
[5] Schröter, Susanne, Global Gescheitert? Der Westen zwischen Anmaßung und Selbsthass, Freiburg i. Br. 2022, 110f.
[6] Meuser, Bernhard, „Heilige Promiskuität. Bischöfe im Strudel der moraltheologischen Debatte“, in: Beilage zu Die Tagespost, 27. Mai 2022, 3–5, 4.
[7] Kardinal Brandmüller, Walter, „Die Vorlage des Synodalen Wegs ‚kann man nur als Massenabfall von Schrift und Tradition bezeichnen‘“, in: kath.net, 21. September 2022.