Die apokalyptische Frau als Überwinderin des Bösen

Bild: Pixabay, Dimitris Vetsikas

Durch die im Laufe der Jahrhunderte fortschreitende Deutung der apokalyptischen Frau in Offb 12,1, die man immer mehr mit dem Protoevangelium Gen 3,15 zusammengelesen hat, tritt die Messiasmutter, die auch für die Kirche in ihrer geistlichen Mutterschaft und Unbesiegbarkeit steht, immer mehr in ihrem Kampf gegen jene geschichtswirksamen Mächte hervor, die in der Apokalypse in dem auf Erden sie verfolgenden Drachen verkörpert sind. Es heißt dann dort – nach der Schilderung des Engelkampfes, in dem „die alte Schlange, die den Namen Satan tragt“, auf die Erde gestürzt wurde: „Da wurde der Drache zornig über die Frau und machte sich auf, Krieg zu führen mit den übrigen ihrer Kinder, mit denen, die Gottes Gebote erfüllen und festhalten am Zeugnis Jesu“ (Offb 12,17).

Man kann sich die Frage stellen, und ich will es hier tun, worin sich der Angriff des Bösen gegen das Gottesvolk in unseren Tagen artikuliert. Wie unschwer zu erkennen ist, bilden die Kirche und ihre Gläubigen die primäre Zielscheibe für das Werk der Zerstörung, das von außen, aber auch aus dem Innern der Kirche ansetzt.

1. Ideologische Zeitströmungen und die politische Kaste

Was den äußeren Ansturm gegen den Glauben der Kirche betrifft, so weht der Wind von neuen globalen säkularistischen Ideologien und Bewegungen her, die – in aggressiver Weise – auf eine radikale Entchristianisierung hinwirken. Vor allem in den Reihen einer globalistischen politischen Kaste ist man vornehmlich an einer kollektivistischen Herrschaft interessiert, deren Etablierung umso leichter fallt, je mehr der Einzelne als entwurzeltes, atomisiertes Individuum dasteht. Der Generierung einer identitätslosen Masse muss alles im Wege stehen, was den Menschen bisher an Religion, lokale Kultur und Gemeinschaft zurückgebunden hat. Insbesondere das Christentum erweist sich als sperrig gegenüber der totalen Neuorganisation der Gesellschaft nach globalistischen und technokratischen Plänen, die dem Prinzip solve et coagula folgen: überkommene Strukturen und Ordnungen auflösen und alles wieder neu zusammenfügen.

Es geht in einem ersten Schritt um die Destruktion bestehender gesellschaftlicher Ordnungsgefüge durch die Auflösung überkommener Identitäten. Hernach werden die jeder kulturellen Prägung und Verwurzelung in Stamm, Volk, Sippe, Kirche beraubten „Weltbürger“, vom somewhere zum anywhere geworden, zu einer neuen globalen Zivilisation zusammengefügt, die von einem positivistischen Szientismus, Technologie und rein humanitären Werken getragen wird. Auf diese Weise soll der Weg in eine universale Technokratie, die von einem polit-medialen Komplex dominiert wird, geebnet werden.

2. Ein humanitäres Narrativ

Dem aufmerksamen Erforscher zeitgeistiger Strömungen wird es nicht entgehen, dass ein neues Narrativ dominiert, welches sich mit einer eigenen „Heilsgeschichte“ präsentiert. Man könnte sie die Geschichte der „wokeness“ oder „sozialen Gerechtigkeit“ nennen.[1] Es handelt sich dabei um ein Substitut der christlichen Erlösungserzählung, das in etwa diesem Muster folgt:

Es ist uns nicht bekannt, woher wir kommen und worin unser definitives Ziel besteht. Was uns aber klar vor Augen steht, ist, dass wir mit denen, die unsere Hautfarbe haben oder die zu einer diskriminierten Klasse gehören und daher unsere Position als Ausgegrenzte erfahren, gemeinsame Interessen teilen. Die Gruppe derer, die von der bürgerlichen Gesellschaft aufgrund bestimmter Merkmale diskreditiert werden, erleidet einen Zustand der Entfremdung gegenüber allen anderen etablierten Gesellschaftsmitgliedern. Im Vergleich mit jenen befinden wir uns in der Opferrolle, da wir diese Stelle ohne eigenes Verschulden einnehmen. Unser Ausweg als Weg der Erlösung und Befreiung bietet sich dar als unser ständiger Kampf gegen jene, die uns unterdrücken. Im Namen und im Interesse einer gerechten Gesellschaft müssen wir diesen Kampf um politische Macht und kulturelle Dominanz führen.

So hat sich in der westlichen Hemisphäre zweifelsohne eine für viele attraktive neue Erzählung etabliert, die sich als säkulare Alternative zur christlichen Erlösungslehre präsentiert. Danach gibt es auf der einen Seite die, die für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte streiten, die weisen Ritter, die Seite der Guten, und auf der anderen Seite die obskure Liga der Unterdrücker, die mit dem Festhalten an einer überkommenen Moral und Gesellschaftsordnung und ihrer Anklammerung an Tradition, Familie, Eigentum den repressiven Widerpart bilden.

Das geschilderte Narrativ besitzt – besonders für jene, die nie christlich sozialisiert waren – einen gewissen Plausibilitätsvorsprung, da es den Erwartungen einer gerechten Gesellschaft entgegenkommt. Dies umso mehr, als sich heute viele verletzt und diskriminiert fühlen, hatten sie doch nie die Chance, ihre Situation zu verbessern. Von der „besseren Gesellschaft“ ausgegrenzt, finden sie sich in der Opferrolle wieder, was seit einigen Jahren eine nicht zu unterschätzende mediale Verstärkung erfahrt. Auch eine christliche Gesellschaftslehre muss Prinzipien für den Aufbau einer Gesellschaft liefern, die dem Einzelnen ein Zusammenleben in Gleichheit, Freiheit und Würde bietet und ihm nicht die Chance auf ein gutes Leben verweigert. Doch was die von einem atheistischen Humanismus getragenen neuen Bewegungen vermissen lassen, ist die Überzeugung, dass sich eine gerechte Gesellschaft nur dann wird aufbauen lassen, wenn die Wahrheit über Gott, die menschliche Natur und die Personalität des Menschen respektiert wird.

Es ist falsch, den Menschen auf bestimmte körperliche Eigenschaften – Hautfarbe, Geschlecht, ethnische Herkunft – oder seine Stellung in der Gesellschaft oder den lokalen Status – innerhalb oder außerhalb des Mutterleibs – zu reduzieren. Wie unschwer zu erkennen ist, speisen sich die neuen Bewegungen von ideologischen Vorgaben der früheren Befreiungstheologie, die hier unter einem veränderten Gewand wiederkehrt, und letztlich insgesamt aus einer marxistischen Kulturvision.

3. Transhumanismus

Der Glaube an die totale Machbarkeit des einer vorgegebenen Natur beraubten, einem technokratischen Syndikat unterworfenen Menschen hat auch den Transhumanismus inspiriert, der seine utopischen Zielvorstellungen in den letzten Jahren unverblümter an die Öffentlichkeit spielt.

Der Transhumanismus zielt auf ein Mischwesen von biologischer Masse (mehr ist der „natürliche“ Mensch für ihn nicht mehr) und technologischem Artefakt. Seine Protagonisten sehen es als erstrebenswert an, wenn der Mensch als ein solches Konglomerat aus biologischer Substanz und Technologie (Mensch und Maschine) das Lab des Erfinders verlässt. Dabei findet in der Interferenz von menschlicher Erstform und technischen Komponenten eine Verlagerung der Gewichtung hin zur Maschine statt.

Im „Posthuman“, in dem der Mensch sich überwunden haben wird, kommt das mechanisierte Menschenbild zum Vorschein – eine kontrollierte Biologie, in der das Biologische zugunsten der Technologie beherrscht und transformiert ist. Das von Natur aus Seiende, die Natürlichkeit, das Biologische, wird zu einem Charakteristikum des Menschen, das überwunden werden soll. Der homo faber ist an einem Punkt angelangt, an dem er die weitere evolutionäre Entwicklung selbst in die Hand nimmt, indem er sich zu seinem eigenen technologischen Produkt macht. Die kommende posthumane Gesellschaft hat den ureigenen ontologischen Status des Menschen hinter sich gelassen und ist unterwegs zum digitalen Dasein.

4. Eine gottlose Agenda

All die genannten Bewegungen kommen darin überein, dass sie, weil sie Gott, den Urheber und Schöpfer des Menschen, leugnen, auch die Wahrheit über die menschliche Person verloren haben.

In den vergangenen Jahren (2020–2022) haben bestimmte Kräfte die Verbreitung eines Virus gebracht, um ihre böse Agenda voranzutreiben, die gegenüber den Familien und der Freiheit ein feindschaftliches Potenzial aufweist. Diese Kräfte erzählen uns, dass wir nun den great reset über uns ergehen lassen müssten. Die uns verordnete neue Normalität, die uns durch die Manipulation von freien Bürgern und ganzen Gesellschaften auferlegt wird, können wir nun in einer Krankheitsprävention finden, weniger in Gott und seinem Heilsplan.

In der Kirche fehlt es bei vielen an Verständnis, wie Christus sein Heilswerk gerade auch in Krisenzeiten fortführt. Oft sehen wir die Hirten der Kirche in einem desolaten mentalen Zustand. Gerade sie, die nach Gottes Plan für die Gläubigen die sicheren Führer und Lehrer der Wahrheit sein sollten, stechen durch bloße Anpassung an die veröffentlichte Meinung hervor.

Oft genug werden die Gläubigen ohne Antwort gelassen, indem ihnen Abirrungen kommuniziert werden, die Auflösung und Relativismus widerspiegeln und die unveränderbare Wahrheit des Glaubens und einer am Evangelium orientierten Lebensordnung beiseitelassen. In der Verwirrung darüber, was die Kirche wahrhaft lehrt und im Hinblick auf ihre Lehre von uns fordert, entstehen immer weitere Spaltungen innerhalb des Leibes Christi. Diese Tendenzen schwächen die Kirche in ihrer Sendung, von der göttlichen Liebe und Wahrheit Zeugnis zu geben. Die Welt hat nie mehr danach verlangt als heute, dass die Kirche in der Begegnung mit der Welt ein Leuchtfeuer sei.

In Deutschland sind viele Amtsträger der Kirche dabei, sich in falscher Weise der Welt anzupassen („Synodaler Weg“), anstatt die Welt entsprechend dem Gesetz Christi, das mit der Inkarnation in Fülle offenbart wurde, zur Bekehrung zu rufen. Diese hier skizzierten Schwierigkeiten stellen eine ungeheure Herausforderung dar.

Der Hereinbruch der Krise in Welt und Kirche führt bei vielen zu schmerzhaften Leiden in physischer, emotionaler und spiritueller Hinsicht. Weltliche Mächte – der polit-medial-digitale Komplex – zeigen das Bestreben, Christen voneinander zu isolieren, damit sie sich allein vorkommen und das Gefühl der Abhängigkeit von innerweltlichen Kräften entwickeln, die sie zu Sklaven ihrer gottlosen und mörderischen Agenda machen.

5. Mariens Hilfe

Die Situation der Kirche und der Gläubigen ist vorgebildet in dem apokalyptischen Bild der Frau, die in die Wüste flieht, wo Satan sie attackiert. Die Frau, wie sie der Seher schaut, ist einzig und einzigartig. Sie umfasst Maria und die Kirche, weil die eine von der anderen untrennbar ist. Dem johanneischen Symbolismus entsprechend muss man die Kirche in Maria sehen und umgekehrt Maria in der Kirche.[2]

Wir können sicher sein, dass in dieser außergewöhnlichen Situation Maria auf den Plan tritt, um den Christen beizustehen. In Wirklichkeit ist es sie, die diesen Kampf auf Seiten der Kirche als deren Urbild und Mutter anführt. Keine Feindschaft ist größer, als sie zwischen dem Bösen und Maria besteht, denn nie kann er durch irgendeinen Makel der Sünde an ihr Anteil haben. Während alle anderen Glieder der Kirche ihm durch die Sünde irgendwie Einfluss auf ihr Leben gewähren, der sie im geistlichen Kampf schwächt, ist dies bei Maria nicht der Fall.

In der christlichen Kunst hat die intuitive Erfassung des Zusammenhangs der apokalyptischen Frau und Mariens dazu geführt, verschiedene biblische Szenen in einem Bild zu vereinen: Im Liber depictus (1380) besitzt das Sonnenweib mit dem Kind auf dem Arm Flügel, und in einem Wandgemälde aus dem 12. Jahrhundert flieht es vor dem wasserspeienden Dachen, genauso im Scheyrer Matutinale von 1225. Lucas Cranach fügt der Szene, in der Maria dem Drachen gegenübersteht, den Drachenkampf Michaels bei – eine Zusammenschau, die man auch bei Rubens wiederfindet. In Spanien kennt man die Virgen combatiente (17./18. Jh.), die mit dem Speer die Schlange ersticht, sowie die Virgen del scorro, die mit Stock, Zepter oder Pfeil ausgerüstet den Drachen bekämpft.

Die Verbindung zur Unbefleckten Empfängnis finden wir dann auf einigen böhmischen Bildern um 1430/50, auf denen die apokalyptische Frau mit Krone und Zepter mit dem Kind im Arm vor einem brennenden Dornbusch, dem Symbol der Unbefleckten Empfängnis, erscheint.[3]

Darum ist sie diejenige, die der Schlange das Haupt zertritt. Und es ist sicher nicht überinterpretiert, wenn alle gottfeindlichen weltlichen Mächte, die die Gefolgschaft Satans bilden, darin inkludiert sind. Die Überwindung des Bösen, das den Menschen von Gott wegziehen, seine Personalität und Ebenbildlichkeit zerstören und ihn versklaven will, ist nur in Maria und durch Maria möglich. Im Verein mit ihr wird sich die Kirche neu ihrer Identität versichern, um unserer ermüdeten Gesellschaft[4] das Evangelium zu bringen und die Welt in Christus zu erneuern.

21. November 2024
In Præsentatione beatæ Mariæ Virginis

Prof. Dr. habil. Michael Stickelbroeck

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[1] Vgl. zum Folgenden den Vortrag des Vorsitzenden der US-amerikanischen Bischofskonferenz, Erzbischof Jose Gomez von Los Angeles, beim Kongress „Katholiken und das öffentliche Leben“ in Madrid am 4. November 2021, https://www.kath.net/print/76722 (Zugang 5. Dezember 2021).
[2] Vgl. F.-M. Braun, La Femme vetue de soleil (Apoc XII). Etat du probleme, in: Revue thomiste 55 (1955) 668. Zitiert nach Miguel Ponce Cuellar, Maria. Madre del Redentor y Madre de la Iglesia, Barcelona 22002, 195. Ponce zitiert an dieser Stelle auch Quodvultdeus, De symbolo ad catech. III, 5‒6 (PL 40, 661), wo Maria „figura“ der hl. Kirche genannt wird. Vgl. dazu auch C. Pozo, Maria en la obra de la salvacion, Madrid 21990, 238–246, oder jetzt auch das Nachfolgewerk: Maria, nueva Eva, Madrid 2005, 251–259.
[3] Vgl. E. O. Steinmann, Apokalyptische Frau. III. Kunstgeschichte, in: Marienlexikon 1 (1988) 191‒193.
[4] Vgl. Byung-Chul Han, La sociedad del cansancio, Barcelona 2017; dt. Müdigkeitsgesellschaft, Berlin 2010.